Sonntag, 11. Dezember 2016

Kurz vor Zwölf ?! Michael Endes Wunschpunkt bringt Umweltethik auf den Punkt!

Inhalt:

Der Schwarzmagier Beelzebub Irrwitzer hat ein Problem: er läuft Risiko vertragssäumig zu werden, denn all seine ungemeinen höllischen Zauberkräfte hat er nur unter der Bedingung gekommen, zehn Tierarten auszurotten, fünf Flüsse zu vergiften, eine Seuche unter die Menschheit zu bringen und tatkräftig am Klimawandel mitzuwirken, damit noch mehr Überschwemmungen und Dürreperioden den Planeten schütteln.

Nun ist es nicht so, dass Irrwitzer unfähig ist. Aber er hat getrödelt und das lag daran, weil ihm ein tierischer Spion, der Kater Mauricio, vom Hohen Rat der Tiere ins Haus gesetzt wurde. Der hemmte Irrwitzers Tempo, denn der Magier sah sich veranlasst, dem Kater heile Welt vorzuspielen und ihn zu vertätscheln anstatt rigoros seinem Vergiftungsprogramm nachzugehen.
Den höheren Kräften ist das natürlich egal und so hat Irrwitzer nur noch die wenigen Stunden bis Mitternacht, um seine Säumnisse aufzuholen.
Die Rettung naht, als seine Tante Tuty sich unvorangemeldet einlädt. Sie hat das gleiche Problem aber auch die Hälfte der Lösung im Gepäck: Das Rezept für den satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch. Ebenfalls bringt sie einen Spion des Hohen Rats der Tiere mit, den Raben Jakob Krakel.

Was folgt ist ein doppelbödiges Täuschungs- und Versteckspiel voll komischer und tiefsinniger Situationen in denen Irrwitzer und seine Tante einerseits versuchen, den Wunschpunsch herzustellen und Jakob und Maurizio andererseits die Welt zu retten.


Kommentar:

Michael Ende lieferte 1989 einen großartigen Wurf ab: Ein fantastisches, humoristisches und absurdes mehrfachadressiertes Märchen mit Mitteln der Parabel, in dem unter anderem die Themen Freundschaft, Identität, Umweltzerstörung und menschliche Verantwortung(slosigkeit) im Gebrauch von Wissenschaft und Wirtschaft, die philosophische Haltung dazu, Unterdrückung und Revolution behandelt werden.

Das Genre: 

Da Tiere sprechen, Steinfiguren lebendig werden, Zauber- und Magie walten, der Ort und die Zeit relativ unbestimmt und ewigkeitsgültig gelten dürfen und die Figuren auch wie Archetypen wirken, deutet vieles darauf hin, dass es sich bei dem Buch in erster Linie um ein Märchen handelt. Eingebaute Rezepte, Zaubersprüche, Gedichte und Lieder lockern den Text auf.
Man kann das Märchen aber auch als Parabel lesen, denn in der Geschichte wird dem Leser eine Situation angeboten, die er entschlüsseln muss, um eine andere Handlung zu erkennen. Der Bildebene steht eine zu entschlüsselnde Sachebene gegenüber.
Hinter dem Text verbirgt sich eine beissend komische Kritik an der menschlichen Ethik gegenüber der Umwelt. Irrwitzer und Tante Tyti entpuppen sich als Vertreter der Menschheit. Dabei steht Irrwitzer für die Wissenschaft und Technik, wohingegen Tyti die Wirtschaft präsentiert. Der Roman spielt vor, wie skrupellose Forschung und profitorientierte Investitionsfreude die Umwelt zerstören. Er entlarvt diese Mechanismen zum einen und wirkt damit klar aufklärerisch. Zum andern wirft er die Frage auf, welche Ethik und welche Taten die Zerstörung der Erde aufhalten können. Ein dritter Boden entsteht durch die Zeitsetzung der Geschichte. Es ist kein Zufall, dass die Handlung um kurz vor zwölf ansetzt, denn wir alle kennen das Sprichwort "es ist kurz vor zwölf", das Eile gebietet und uns ermahnt, rasch eine Lösung für ein Problem zu entwickeln.
Es wurde nun klar, dass das Buch sowohl märchenhafte als auch parabelhafte Züge trägt. Dennoch zählen Märchen und Parabel eigentlich zur Gattung Kurzepik. Da das Buch in der Taschenbuchausgabe gut 200 Seiten zählt, muss das Werk im gesamten aber als märchen- und parabelhaften Roman klassifizieren.
Geht man einen Schritt weiter, lassen sich aber auch viele Gestaltungsmittel der Satire in dem Text finden: Er prangert auf ironische, überspitze und humoristische Weise das Verhalten der Menschen gegenüber der Natur an, lehrt uns Heldenhaftigkeit und wahre Freundschaft, polemisiert gegenüber Raubtierkapitalismus und tatenloser Philosophie und ist dabei unterhaltsam.

Zusammengefasst kann man also von einem märchen- und parabelhaften und satirischem Unterhaltungsroman sprechen. Durch den Verzicht auf explizite Gewalt lässt er sich auch in die Reihe der Kinder- und Jugendliteratur einordnen. Doch durch seine brisante Thematik und die philosophische Doppelbödigkeit ist das Werk auch an Erwachsene adressiert.

Besonderheiten: 

Besonders ist in dem Buch, dass die erzählte Zeit und die Erzählzeit nahezu deckungsgleich sind. Anstatt von Kapiteln werden dem Leser Uhrzeiten genannt. Der Roman beginnt gegen 17:00h und endet gegen Mitternacht. Die erzählte Zeit erstreckt sich als auf etwa sieben Stunden, was wiederum etwa der Zeit entspricht, die man braucht, um den Roman zu lesen.

Die Illustrationen von Regina Kehn im Buch geben Zeit, das Auge ruhen und entdecken zu lassen und sprechen einen anderen, als den kognitiven Sinn an.

Ein besonderes Schmanckerl in dem Roman ist Michael Endes derbe Kritik an Marcel Reich Ranicki, der als "Büchernörgli" in dem Roman auftaucht.

Zitate: 


„Wir Leute aus der vornehmen Welt“, so hatte er (Maurizio) dem Zauberer öfters erklärt, „wissen eben, worauf es ankommt. Auch im Elend halten wir das Niveau“ (Maurizio)

"In der Ewigkeit", sprach er, "leben wir jenseits von Raum und Zeit. Es gibt kein Vorher und Nachher und auch Ursache und Wirkung folgen einander nicht, sondern sind ein immerwährendes Ganzes. Darum kann ich euch jetzt schon den Ton schenken, obgleich er erst um Mitternacht erklingen wird. Seine Wirkung wird der Ursache vorausgehen wie bei so vielen Gaben, die aus der Ewigkeit stammen" (St. Sylvester
Fazit: 
Unbedingt lesenswertiges Kultbuch mit Aktualität hinsichtlich epochaltypischer Problem- und Fragestellungen. Lesen, lesen, lesen!


Zur Parabeldefinition: Parabel
Zur Satirendefinition: Satire