Dienstag, 5. Februar 2019

Massive Attack 2019 - Frankfurt "Jahrhunderthalle" - eine Lehrstunde!

Warum haben alle Hallen in Deutschland eigentlich die gleiche Parkplatzpflasterung? 
Das geht mir durch den Kopf, als ich mit ein paar Freunden Richtung Jahrhunderthalle laufe. Der zweite Gedanke, der daran geknüpft ist, geht dann über den Eingangsbereich mit der Leuchtaufschrift "Jahrhunderthalle" - irgendwie erinnert sie mich zusammen mit dem Parkplatz an die etwas kleinere "Mainfrankenhalle" in Veitshöchheim, in der ich mal einen Bilder-Vortrag über New York gesehen hatte. Das war, bevor ich die große Kuppel in der Dunkelheit ausmachen konnte, die das Bild der Jahrhunderthalle, die in den 60gern erbaut wurde, auch ausmacht.

Eine lange Schlange wird professionell durch den Eingangsbereich geschleust: die ausgedruckten Tickets werden mit Hand-Barcode-Scannern ausgelesen, bevor man in die Securityschleuse kommt, wo man nach einer kurzen Blickmusterung abgetastet wurde und ein Blick in Handtaschen, Jutebeutel, Umhängetaschen und, was das buntgemischte Publikum des Konzerts sonst noch mitbrachte, geworfen wurde. Hier ist der Moment, an dem ich mal erwähnen muss, wie sehr sich die LED-Lampen durchgesetzt haben. Früher war das Thema "funktionierende Taschenlampe" eigentlich immer ein irgendwie peinliches Thema: Entweder man hatte eine Billigfunzel mit Batterien, die immer genau dann ging, wenn man sie einmal komplett durchgewartet hatte, und dann sofort nicht mehr ging, vor allem, wenn man sie gebraucht hatte, weil die Glühbirne kaputt war oder das Drehgehäuse ausgeleiert oder die Kontaktfeder im Batteriegehäuse nicht mehr ging, oder weil sie feucht geworden war, oder weil die Batterien sofort leer waren, oder alles gleichzeitig.
Oder man hatte eine sündhaft teure "MagLite" - eine zeitlang Statussymbol in meinen Kreisen: denn Sicherheitsdienste, die Polizei und das Militär, so munkelte man, würden genau diese benutzen, weil sie so groß und massiv wie ein Schlagstock waren, gefühlt aus Gusseisen, mit drei Riesenbabybatterien gefüllt und es hieß, man könnte bis zu 30m damit leuchten. Die Batterien hätte man eigentlich lieber für einen ultracoolen Ghettoblaster gewollt und gebraucht. Aber - ich zitiere ein unendlich gültiges Zitat: "Wir hatten ja nix." Und die MagLites, sehe ich gerade, kosten immer noch ca. 100€. 
Ja, zurück zum Thema: Handtaschen, Jutebeutel und Sonstiges wurden mit der leichten, beinahe möchte ich sagen "schnittigen" Handtaschenlampe (natürlich mit LED - Birne ) durchleuchtet. 

Im Vorraum der Halle mit der Kuppel, die ein wenig an ein platt gedrücktes Observatorium erinnert, ist viel los. Ein Gewusel. Die Besucher des Konzerts sind vom Kleiderstil her bunt durchmischt, aber interessanterweise sieht man kaum "junge" Gesichter. Es ist ein wenig, wie wenn man auf einer Ü30 Party wäre, nur dass es nicht schrill zugeht. Irgendwie liegt allem ein "Grundernst" zugrunde. Liegt das an Massive Attack? Eine Band, die uns daran erinnert, wie unsere Gesellschaft ist? Ernsthaft, gestresst, absurd, - na mehr davon nachher.

Jacken und Mäntel werden an der Garderobe gegen Abholmarke aus Blech abgegeben - wir haben ja Winter -, vor den Klos entstehen beachtliche Warteschlangen  und man wird professionell abgehandelt. Ein Großereignis, vom Feeling bisher mehr Theater oder Oper als Konzert. Dazu passen die überteuerten Preise der Getränke - ein 0,4l Bier für 4,20€ enttäuschenderweise aus dem Plastikbecher. "Wie viele Plastikbecher werden heute wohl weggeworfen?", frage ich mich. Inzwischen schätze ich 3000-4000, angelehnt an meine Schätzung der Besucherzahl. Dabei wäre es doch nichts Großes, recycelbare Becher zu benutzen! Mit nem schicken Aufdruck drauf, ein Pfandsystem einbauen...beim Afrikafestival ging das doch auch, wieso soll das bei einem darauf spezialisierten Veranstaltungskomplex nicht auch etablierbar sein? Große Frage für mich. Große Enttäuschung darüber. 

Über die Treppen gelangt man dann - ähnlich wie in der Paulskirche - in den eigentlichen Konzertbereich - das Atrium unter der Kuppel. Noch höher auf die Galerie dürfen die mit Sitzplatzkarten, die nochmal getrennt kontrolliert werden.
Inzwischen macht sich meine typische Skepsis gegenüber Großkonzerten breit: total unterschiedliche Leute aber auch total viele, Angst und Sorge, nichts zu sehen, nicht den besten Platz zu haben, Missgunstdunst, die unnötigen Plastikbecher und ab 20:07h die ersten Pfiffe, weil es noch nicht losgeht.
Das Publikum wird mit dumpf gehaltenen "Best of 90ties" Hits beschallt. To the moon and Back, Don't wanna miss a thing, selbst Madonnas Rain kommt. Die Pfiffe nehmen zu. Als ein Lied (war es Jump Around?) mit einer Fanfare beginnt, interpretieren das viele fälschlicherweise als Anfang der Show, die Pfiffe nehmen zu und ebben ab und münden in eine etwas weiter angewachsene Gereiztheit und Nervosität. 5 Minuten später checkt ein Mitarbeiter mit einer Taschenlampe eine E-Gitarre. Das Spiel wiederholt sich: Pfiffe, Vorfreude, Abebben, Gereiztheit. "Geht es jetzt los?" Nein. 

Ich entspanne mich, versuche all das Wegzudrücken, freundlich zu sein und fröhlich. Versuche mich auf freundliche Gedanken zu besinnen: Was für ein übergroßer Luxus es überhaupt ist, an so einem Konzert teilnehmen zu können! Ich besinne mich darauf, dass ich nicht viel zum Glücklichsein brauche...Versuche freundlichen und fröhlichen, positiven Gedanken nachzugehen. Erinnere mich an die Sonne, die von innen in mir strahlt. Dann gegen 20:30h gehen schlagartig die Lichter aus. 

Massive Attack - ein verstörendes, verzerrtes Intro - undefinierbar zwischen Synthie und Egitarre - Flickerlicht mit Weiß- und Blaustich, gefühlt 3, 4 Minuten lang auf der Großleinwand hinter der Band. Es geht los! Ich sehe schlecht. Große Leute stehen vor mir und viele bis zur Band: Wir stehen recht weit hinten, mittig, vor dem Mischer. "Die Bühne könnte einen halben Meter höher sein!", denke ich mir und bin noch mit solchen Gedanken beschäftigt.
Dann beginnen die ersten atemberaubenden Videoaufnahmen. Eine Eule fliegt in Zeitlupe durch die Luft, wir schauen ihr zu. "Es ist die Freiheit, die ihr wolltet" wird auf Deutsch (mit Wortendungsfehler ("Nicht im Ernst! Das sind Perfektionisten. Massive Attack hat keinen Korrekturleser?!") eingeblendet...ein Auge in Nahaufnahme, das vermutlich in einen Bildschirm schaut, jedenfalls irgendwo zuschaut. Eine Art Pop-Ballade spielt die Band als Opener. "Wirklich?" Ich bin gespannt. Der Song ist garniert mit weiteren Videoaufnahmen einer Royals-Hochzeit: Das Paar in der Pferdekutsche, dass durch eine Gasse aus Hochzeitsgästen aus einem alten Innenhof herausfährt. Dabei fängt die Kamera das Verhalten einer Brautjungfer ein, nicht das Hauptgeschehen. Ein Muster, das sich wiederholt. Voyeuristische Gelüste werden bedient. Kommt jetzt nur so ein "Best-of-Youtube-Special?"

Es dauert ein paar Lieder, bis ich ankomme: Im Konzert und auch an einem Platz an dem sich der weggedrückte Wunsch "Ich würde schon gern etwas mehr sehen!" auflöst. Zwei Schlagzeuger, einer dunkelhäutig im schwarzen Kapuzenhoodie, einer hellhäutig, beide auf Drumraisern, ein alter, dunkelhäutiger Jazzbassist, wie es aussieht, die Frontmänner Tricky und 3-D, der auch auf die Ferne immer noch etwas von Edward Norton hat, ein Rythmusgitarrist und ein Leadgitarrist. Das sehe ich nach und nach. Und ich komme im Konzert an.

Massive Attack ist nicht irgendeine Band, wie sie im Immerhin spielt. Nicht so rockig. Aber auch kein Postrock. Die Musik ist auch nicht soooo komplex und anspruchsvoll, dass das Vergnügen im Zuschauen und Dechiffrieren der Patterns oder im Staunen über die Instrumentalisten-Skills besteht. Zwei Dinge werden mir während des Konzerts klar: Wie schlagzeugfixiert vor allem die "Tophits" von Massive Attack sind, und da im Detail: wie sehr die Bassdrumm mir wie die Achse der musikalischen Bauten vorkommt und wie sie der Motor der Lieder zu sein scheint. 
Genial die Idee bei Teardrop den Herzschlag des Menschen einzubauen. So simpel, wie genial. Massive Attack sind als erstes darauf gekommen und haben das perfekt umgesetzt und damit einen  Platz im Raum der genialen Ideen eingenommen. Oder Inertia Creep: Ernsthaft geht jeder Bassdrumbeat vom ersten bis zum letzten Schlag. Der dunkelhäutige Drummer versteht das. Und zieht es durch. Jeder Schlag kräftig, wichtig, präzise, bewusst. Profi.
Der Zweite Punkt: Massive Attack-Shows bestehen zu mehr als der Hälfte aus den Visuals und der Message, die sie machen. Zusammengefasst: Massive Attack halten unserem Kollektivbewusstsein und uns den Spiegel vor, kritisieren es und formen es gleichzeitig mit. 

Die Show ist eine große Kritik an unserer medialen Reizüberflutung mit Videomaterialien. Das ist schon irgendwie typisch 90ger, die Kritik, die Zeit vor Youtube. Als man noch DVDs kaufen musste, um ein Musikvideo zu besitzen und öfters anschauen zu können, als per Zufall in der Daily Rotation - bei anspruchsvoller Musik dann vor allem nachts - ein gutes Video à la Windowlicker kam und man sich fragte: "Was war das?!". Oder als man per Glückstreffer und Videorecorder eine Aufnahme eines Hits ergattern konnte. 
Massive Attack belehren uns über die Verfügbarkeit und Reproduzierbarkeit medialer (Schein)Realitäten. Die 2-D Bilder sind echt und unecht gleichzeitig. Sie sind vergangen, die Geister, so behauptet die Schrift, die man zwischen oder auf den Videoclips aus den 80gern/90gern/70gern projiziert sieht, sind vergangen. Sie sind ein Blick in die Vergangenheit, und sie wispern uns alle zu: "Lebe jetzt, es ist egal, wie du lebst, alles ist vergänglich! Wir sind vergangen!"...tiefbarock, wenn ich das kommentieren darf: vanitas, memento mori. (am Ende der Show wird das carpe diem- Motiv, gekoppelt allerdings an die postmoderne Forderung, präsentiert. Mehr dazu später). 

Während wir das noch gar nicht so richtig verstanden haben, werden wir mit Gegensätzen bombardiert: Technologie, Urbanität, Vergnügen und Verdrängung auf der einen Seite und stumpfe Brutalität in Form von Mord, Schlägerei, Krieg auf der anderen Seite. Ebenso wenig ins Bild passen  die vielen Videosequenzen aus der Natur, oft von Vögeln. Die Eule im Flug, eine Drossel an einem Fenster und - besonders schön anzusehen: Eine Taube, die aus einem fahrenden Auto auf dem Arm des Beifahrers sitzt, der den Arm aus dem offenen Fenster hält...die Taube fliegt los, in der gleichen Geschwindigkeit wie das fahrende Auto und fliegt um es herum - vielleicht eine trainierte Brieftaube...Auch ein Gegensatz zur Urbanität: Immer wieder tanzende Leute, allein oder in Folklore.
Was soll das alles?

Uns werden die Kausalzusammenhänge leicht vereinfacht vorgeführt: Unsere Daten werden überall gespeichert, wir liken und loven trotzdem irgendwelchen Quatsch weiter. Wir haben ein unsterbliches, ominpräsentes, digitales Weltgedächtnis um uns, einen Klick entfernt und voll vernetzt. Diese omnipräsente Datenmasse - und Achtung, das muss man selbst erschließen - wird von Massive Attack als omnipotent dargestellt: "Die Vergangenheit löscht die Zukunft aus." Wir glotzen mit jedem Youtubevideo in ein Stück Vergangenheit. Das rüttelt auf, bedrängt.
Wahlslogans aller Länder werden uns gebündelt vorgeführt und wir merken, dass etwas nicht stimmt. Dass die Werte richtig sind - Gemeinschaft, Zusammenhalt, Zukunftsoptimismus, Aktivismus quasi: "Wir schaffen das, alle, jetzt!" - aber dass diejenigen, die sie uns versprechen, ihre Versprechen nicht einlösen und dass die Versprechen nicht umgesetzt werden. Das verunsichert uns und während ich das sehe und höre, verstehe ich, dass mir Massive Attack meine Unsicherheit und Unzufriedenheit im Digitalen Zeitalter der Postmoderne erklärt!

Außerhalb vom "Vergnügungstempel" ( ein Ausschnitt zu Alice im Wunderland)  tobt immer noch der Krieg. Menschen werden unschuldig getötet, arabische Familienangehörige trauern fassungslos um einen gestorbenen Verwandten, fernab davon flaniert Putin über den leergeräumten Kremlvorplatz, lässt sich Trump von Wählern feiern und sitzen Staatschefs wie Putin und Trump beinander, schütteln sich die Hände und dulden oder provozieren diesen Scheiß. 

Wir verdrängen das, betäuben uns (die Namen von Schlafmitteln werden eingeblendet, vielleicht auch Antidepressiva) und haben durch Youtube die Möglichkeit, alles und jeder zu sein (bei "Dissolved Girl" werden Fans, die den Song interpretieren, also ein Drummer, ein Bassist, eine Sängerin, die für die youtube-Gemeinde mitspielen, eingeblendet).
Wir haben mit den Medien auch neue Ablenkungsmöglichkeiten entwickelt.  Gleichzeitig kommen wir nicht zurecht mit der Omipräsenz dieser "Geister", die ja auch Vorbilder sind. Sie leben, tanzen und singen in 2D weiter, wir schauen sie an und halten sie damit am Leben. Curt Kobain wird gezeigt und ja, digital kann er immer noch Rosen an Damen aus dem Publikum bei Nirvanas letzten Unplugged Konzert verteilen und wir können die junge Britney Spears immer noch weiter leben lassen. Youtube als der kollektive Datenspeicher, wird uns per Schriftzug erklärt, dekonstruiert die Grenzen von Zeit und Raum. 
Und weil wir uns das alles reinziehen, diese logischen Unmöglichkeiten, sind wir orientierungslos und verwirrt, weil unser "Heute" von Geistern aus dem "Gestern" überlagert wird. Darüber versuchen wir uns wieder wegzuamüsieren, aber tief in uns bleibt dieses Gefühl der Unsicherheit, das Gefühl des Betrogenseins, dieses fehlende Vertrauen.

Die Lehrstunde endet mit dem Zusammenführen der einzelnen Stränge zu einer Synthese: Wir sind (solange wir Geister aus der Vergangenheit konsumieren und Leute wie Trump und Putin wählen) in einer Endlosschleife gefangen. Es ist Zeit, die alten Geister zurückzulassen und jetzt unsere Zukunft zu gestalten. Mit dieser Botschaft endet das Konzert. Ohne Zugabe. Carpe Diem heißt heute: Pack an, mach was draus, um aus der Endlosschleife rauszukommen. 
Bravo. 

Massive Attack zeigen sich ernsthaft und kompromisslos. Sie zeigen uns auch, wie ausgebrannt wir sind. Müde vereinzelte Pfiffe beim Anblick Donald Trumps. Gott sei Dank.
Jedenfalls geht es in Ethik demnächst um Trump und seine Worthülsen und weiter um epochaltypische Probleme und Lösungsansätze: Gegen Isolationismus und Abgrenzung. Gegen Überheblichkeit. Für Höflichkeit und Humanismus. 


Zuletzt: 

Der Hit "Angel" - das vielleicht noch interessant - wird nur mit einer Buchstabenreihe, die evtl GATTACA bedeutet, untermalt.  ( Der Titel „Gattaca“ ist aus den Abkürzungen der vier Nukleinbasen der DNA zusammengesetzt: A für Adenin, C für Cytosin, G für Guanin und T für Thymin. Die Abfolge dieser Basen als GATTACA kann erstaunlich oft in der menschlichen DNA gefunden werden.zitiert aus Wikipedia)
Die Einzelbuchstaben wechseln immer - aber das Grundpattern scheint gleich zu sein. Der Mensch ist sich selbst...ja was denn? Ah, der bedrohliche Engel, den der Song beschwört, der Wolf ist, aber Engel sein könnte.

Teardrop darf nicht fehlen, fällt aber aus dem Rahmen der Medienerziehung. Der Song wird von der Show so schön präsentiert, wie er ist: Die Beleuchtung untermalt nur das Gefühl von Schönheit, Schutz und Geborgenheit, Rettung. Keine Videos nur drei künstliche Sonnenaufgänge, wir dürfen uns im Licht baden und einer Mutter Maria beim Singen zuhören und zuschauen.