Freitag, 10. Januar 2025

"Im Wasser sind wir schwerelos" - lähmend, fesselnd, rührend.

 "Im Wasser sind wir schwerelos", Tomasz Jedrowski, 2020.

 

Inhalt: 

Das Buch erzählt die Geschichte von Ludwik und spielt in Polen, grob in der Zeit der 70ger, 80ger und beginnenden 90ger Jahre.  

Es setzt an mit Kindheitserinnerungen Ludwiks. Er entdeckt seine Homosexualität und kann sie nicht schamfrei ausleben. Er erinnert sich an einen seiner frühen Grundschulfreunde, Benieck. 
Bei ihm wird er sich als Erstes seiner homosexuellen Neigung bewusst. Die beiden spielen zusammen und werden nass im Regen. Als sie sich zuhause im Trockenen abtrocknen und umziehen, fällt Ludwik auf, dass ihn der Anblick betört. 

Die beiden sind dann zusammen auf einem Kommunionsausflug in einem Lager. Auch dort passiert ein romantischer Moment, als die Leiter einen Tanzabend für ihre Zöglinge organisiert haben und das Licht auf einmal für einen Augenblick ausgeht. Ludwik umarmt Benieck - das Licht geht wieder an, alle Augen - so meint Ludwik - sind auf ihn gerichtet und er versinkt in Scham. 
Doch bevor Ludwik die Situation auflösen kann, verschwindet Genick von einem Tag auf den andern. Ludwik - und auch der Leser - kann sich das erstmal überhaupt nicht erklären. Nach einiger Recherche versteht man es: weil er Jude ist. Das verwundert. Judenvertreibung nach 1945? Ja, und erst mit dem Studium der polnischen Geschichte wird klar, dass die Juden nicht nur in Deutschland und nicht nur während des Zweiten Weltkriegs Sündenböcke wurden. Auch in Polen in der jüngeren Geschichte wurden sie instrumentalisiert, als die sozialistische Regierung versagte. Um ihre Popularität zu steigern wurde der 6 Tage Krieg innenpolitisch ausgeschlachtet. Juden wurden letztendlich unter Druck gesetzt und vertrieben. Dieser Vertreibungswelle ist wohl auch dieser Junge, Benieck,zum Opfer gefallen. Er fehlte bei der Kommunion und als Ludwik sich erkundigen will, findet er eine neue Familie in dem Haus, in dem Benieck gewohnt hatte. Ihn wird mitgeteilt, dass Benieck nach Israel verzogen sei. (Die beiden hören auch zusammen das erste Mal "Die Beatles": I wanna hold your Hand).


Zwischenzeitlich wird auch erzählt, wie sich Ludwik in einem Park seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Mann holt.

 

Der zweite grosse Erzählstrang und das zweite Kapitel des Buchs beschäftigt sich mit der Studienzeit Ludwiks in den 80ger Jahren. Wie es in der Zeit des Realkommunismus in Polen wohl üblich war, werden alle jungen Leute zum Erntedienst einbezogen. In einem Lager ziehen die Jugendlichen aller Schichten rote Beete aus dem Feld. Hier wird Ludwik Janusz treffen. 

Ludwik hat eine Freundin, Karolina. Sie ist sehr progressiv und selbstbestimmt und freiheitsliebend und wettert viel und riskant gegen das bestehende System. Ludwik schätzt sie sehr, aber auch jetzt hat er noch niemandem offenbart, dass er homosexuell ist. Karolina scheint das allerdings zu ahnen, denn es wird nun einmal erzählt, wie sie ihn nicht lange vor dem Lagerbesucht mitgenommen hat in eine Bar, die in homosexuellen Kreisen sehr beliebt ist. 

Ludwik schämt sich und ist dort mit der Situation überfordert, er möchte weg und seine Natur weiter verdrängen. Aber er schnappt dort ein Gespräch auf, in dem von dem Buch „Giovannis Zimmer“ geredet wird. Er organisiert sich das Buch umständlich und mit viel Aufwand, da es aufgrund seines Inhalts eigentlich nicht erhältlich sein sollte. In ein anderes Buchcover eingeklebt (Zensur, Spionage, Homosexualität ist im Ostblock "Sodomie" oder eine "Perversität" ), hat er es mitgenommen auf den Erntedienst. Und damit kehrt das Buch nach dieser Rückblende auch wieder in die Erzählgegenwart zurück.

Ludwik geht dem Kontakt mit Janusz aus dem Weg. Er möchte keine peinliche Situation erleben, obwohl er ihn wirklich anziehend findet. Dennoch spielt der Zufall sie zusammen, da Ludwik gerne spazieren geht und Janusz gerne Schwimmen geht. Die beiden treffen sich am Laufe des Flusses im Lager und Janusz geht auf Ludwik sehr offen zu. Dieser reagiert nur und obwohl er ihm aus dem Weg gehen will, sucht dieser ihn doch auf und überrascht den zurückgezogenen Ludwik beim Lesen. Er erkundigt sich nach dem Buch. Und es kommt infolgedessen zum Austausch des Buchs - ein Symbol, denn es offenbart wohl Ludwiks homosexuelle Natur. Ludwik ist angespannt, da er nicht weiss, wie Janusz reagieren würde. Er hat Angst vor Zurückweisung und der nächsten Enttäuschung. Doch wider seine Befürchtungen lädt Janusz ihn ein, ihn vor Ende des Sommers und nach dem Lager noch ein paar Tage in den Masuren zu verbringen.


Das dritte Kapitel erzählt von einem glücklichen Sommer der beidem an einem See. Sie geniessen sich und unbeschwerte Tage und leben ihre Sexualität vollkommen frei und ungestört miteinander aus. Erste Differenzen zwischen beiden zeichnen sich aber schon ab, als die Frage im Raum steht, wie es weitergehen soll nach diesem Sommer. Janusz wird eine Stelle beim "Zentralamt für Pressekontrolle" antreten. Er arrangiert sich mit dem System, Ludwik dagegen träumt von echter Freiheit, wie sie nur im Westen vorzufinden ist. Bereits mit seiner Mutter und Oma wurde er Zeuge der Propagandalügen innerhalb Polens, denn gemeinsam hören sie heimlich freies Radio.


Dann beginnen die Wirrungen des Romans. 

Ludwiks Sympathie und Interesse für die Freiheitsbestrebungen der systemkritischen Arbeitergewerkschaften trifft auf Janusz pragmatisch-opportunistischen Anpassungswillen und Karrieredenken. Janusz pflegt auch eine Liebschaft, aufgrund der Kontakte die sie ihm bereitet und der Deckung, die ihm die Heterobeziehung bietet. 

Die Lebensmittelpreise werden teurer, die Schlangen vor Läden und anderen Bezugsstationen werden grösser. Ludwiks Haushälterin, die sich liebevoll um ihn kümmert, erkrankt an einer bösen Lungenentzündung, aber hat so gut wie keine medizinische Unterstützung in naher Aussicht. Obwohl sich Ludwik immer mehr abwendet, spielt das Schicksal die beiden doch immer wieder zusammen. So erfährt Janusz von der prekären Situation und kommt einige Tage später mit einem von ihm durch Beziehungen arrangierten Privatpraxen-Termin für die Haushälterin bei Ludwik vorbei. 


Es gelingt ihm außerdem den urkritischen Ludwik dazu zu überreden, seine Liebschaft kennenzulernen. Auch für Ludwik steckt hierin ein Vorteil, da er Beziehungen für seine Doktorarbeit braucht, weil er wohl Mitbewerber hat, die Kontakte zur Parteispitze haben würden. Sie ist eine freundliche Frau. Zuerst gehen sie auf eine Party von ihr. Ludwik erlebt überrascht, wie die Oberschicht Privilegien geniesst, während die Unterschicht sich im Verzicht üben muss (Torte, Sekt, Westmusik, Zigaretten...). Dann begleitet er sie und ein paar andere Bekannte ins Wochenende-Haus der Eltern im Wald. Hier nehmen sie gemeinsam einen LSD Tee zu sich. Ludwik ist im Rausch und überfordert, aber auch angewidert von der ständigen Lüge und dem strategischen Vorgehen Janusz'. Er entzieht sich der Situation und bricht den Kontakt zu Janusz ab.


Anschließend schwelen die Arbeiterproteste an und er beteiligt sich indirekt, indem er Flugblätter aus einem Fenster wirft. Nur durch Mithilfe anderer Bürger entkommt er der Sittenpolizei. 


Schliesslich entscheidet sich Ludwik dazu auszuwandern. Er stellt einen Ausnahmeantrag bei der entsprechenden Stelle. Auch hier zeigt sich, wie mächtig und böse das System ist. Zum einen ist dem System bekannt, dass Ludwik homosexuell ist. Zum andern möchten sie auch ihn zum Verrat anstiften. 


Ludwik entscheidet sich ein einziges Mal um Hilfe zu bitten und seine Kontakte auszunutzen. Er bekommt durch das Zutun der Liebschaft Janusz einen Ausreisepass und ein Visum und lässt Janusz zurück. 



Wirkung/Meinung:

Das Buch nimmt  einen mit, denn die Hauptfigur leidet. Es erinnerte mich an einen lnagsamen, sich über den ganzen  Roman erstreckender Unfall,  dem man tatenlos  und  wie in  Zeitlupe zuschauen muss, denn die  Homosexualität  scheint ein  Unglück   zu sein, weil sie kriminalisiert  wird. Und  dennoch hat das Buch  einen  Lichtschimmer am Ende, denn Ludwik  bewahrt sich seinen Stolz und seinen Selbstwert. Er  geht  seinen  Weg, auch wenn er hart ist. Ich habe vor allem sehr viel durch das Buch gelernt über eine Welt, von der  ich nicht  viel wusste. Gerade der Antisemitismus nach 1945  war für mich vollkommen neu. Auch die Zwangsarbeitsaufenthalte auf dem Land für alle Bürger war für mich neu, ebenso wie  Borschtsch  oder die Musik  von "Blondie".


Ein starkes Buch über  Liebe und Homosexualität. Vielleicht vergleichbar mit "Call me by  your  name" von 2017.



Aufklärerisch: 

- Rolle von Kontakten

- Antisemitismus nach 45 (!)

- Rolle der Russen im Zweiten Weltkrieg, da sie zugeschaut hätten ohne eine Kugel zu feuern, als Warschau zerstört wurde

- Kulturpalast Stalins. 

 


 

ciota = "Schwuchtel" 

bortschtsch = Eintopf auf Rote-Beete-Basis. 

Polen: Solidarnosc (Arbeiter)  vs. Regierung 

Masuren = Region im heutigen Nordpolen, früher Südostpreußen. Viele Seen, Seenplatte.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen