Sonntag, 15. Januar 2012

Slumdog Millionär (2008)

"So könnte es gewesen sein..."

Glaubhafte und schockierende Unterhaltung aus Hollywood über Indien.

In  zwei Dritteln des Films geht es in einer aufeinanderbezogenen, zweisträngigen, teilretrospektiven Erzählung nach Indien (Bombay/Mumbai - dieselbe Stadt, aber andere Bezeichnung und Agra/Taj Mahal), um dem Rätsel der Erfolgssträhne des Straßenköters Jamal Malik bei einer "Wer wird Millionär"-Sendung auf die Schliche zu kommen. Geschickt inszenierter, schockierender und blendender Film mit großer technischer Leistung, der im letzten Drittel den retrospektiven Erzählstrang mit dem gegenwärtigen zusammenlaufen lässt, und Jamal mit seiner Lakita wieder zusammenbringt.

Der Geschichtenschreiber erzählt im Gegensatz zum Geschichtsschreiber wie es gewesen sein könnte, so schrieb Aristoteles in seiner Poetik. Ähnlich könnte man also auch an den Streifen von Danny Boyle herangehen. Aufklärerisch und gleichzeitig szenariokreirend bekommt der Zuschauer sehr schnell an die Hand gereicht, was ihn durch den ganzen Film peitschen wird. Zum einen, dass es sich bei Jamal um einen Charakter handelt, der all das verkörpert, was aus der Summe einer traumatischen Kindheit  im Slum erwächst. Zum andern wird dem westlichen Zuschauer von Anfang an nahe gebracht, dass es sich bei der indischen Gesellschaft um eine vollkommen Chaotische handelt, bei der das Individuum angesichts der irrsinnigen Menschenmassen kaum eine Rolle spielt und der Kampf von jedem gegen jeden vorherrscht. Außerdem liegen Triumph und Verlust in diesem Film extrem nahe zusammen, wie gleich aus der ersten Szene mit dem ergatterte Heldenautogramm ersichtlich wird, und wie es auch im Rest des Films immer wieder mit wechselnden Beteiligten vorexerziert wird, wenn Gewalt oder Waffen ins Spiel kommen und Machtverhältnisse ratzfatz umdrehen.
In der von Anfang an offengelegten Enthüllungsdramatik erfahren wir also episodenweise zuerst, warum Jamal ist wie er ist und lernen ihn auch gleich als Opfer kennen - sei es das seines größeren Bruders, oder dass der korrupten mumbaischen Polizei und deren Umgang mit Autobatterien. Kunstvoll ist diese Vorgeschichte des Charakters in die Gegenwartsgeschichte des Films eingebaut: durch sie erfahren wir, und darum dreht sich auch alles in dem Film, warum Jamal die Antworten auf die gestellten Fragen in der Millionenshow weiß. (Um es vorwegzunehmen: It was written)
Dabei würde man gerne drauf verzichten das zu sehen. Sei es das "normale" Leben am Rande der Gesellschaft, oder der religiöse Übergriff, bei dem Jamal und sein Bruder Salim ihre Mutter verlieren, sei es das fleddrige Leben auf der Müllkippe oder die wahren Intentionen eines vordergründig als Philanthropen erscheinenden Multimillionärs, sei es das Leben der Straßenkinder in Taj Mahal oder die gewöhnliche Baukriminalität im neuen Mumbai - alles was wir erleben ist haaresträubend und tief verstörend - eben weil es so gewesen sein könnte, oder sein kann, wie der Geschichtenschreiber es erzählt.
Doch der Film meint es gut mit dem Zuschauer. Im Gegensatz zu anderen Milieudramen wie dem brasilianischen City of God (2002) oder dem in Columbien angesiedelten  Verloren im Meer voller Lügen (2009) trägt einem zum einen ein schwungvoller, roadmoviehafter Rhythmus durch die Grauen auf der Leinwand, zum anderen haften den Bildern immer wieder Spuren burlesker Übertreibung an, die einen ganz eigenen Humor erzeugen.
Schließlich wird Jamals konsequenter Glaube an die eine Liebe und seine Ehrlichkeit im letzten Drittel des Films belohnt. Der Film entpuppt sich zum Märchen und mündet in einem Happy End: Der indische Odysseus kommt am Ende wieder bei seiner Traumfrau an, alle Täter werden bestraft, oder bestrafen sich selbst, und Jamal hat auch noch die Millionen - äh, die 20 Millionen Rupi unterm Arm geklemmt, ohne sie überhaupt von Anfang an gewollt zu haben. Abschließend kann man also sagen, dass es sich bei dem Film um eine bildgewaltige, aussagekräftige Tragikkomödie handelt, die extrem ernsthafte Themen mit einer charmanten Leichtigkeit auf die Leinwand bringt und dabei vielleicht eine Spur weniger inszenatorisch hätte vorgehen können, um gesellschaftliche Relevanz zu erhalten.

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