Sonntag, 22. Januar 2012


Zu Besuch bei der Ewigkeit

Sie sahen nicht so aus, als würden sie mir helfen – schwarz, in schwarzer Kleidung, Cappy cool auf dem Kopf, Fantadosen in den Händen. Der eine lutscht lässig an einem Billigeis. Zwei Schwarze sitzen mit mir im Bus Nr 92. Wir rauschen durch die Schwärze der Nacht. Aber sie helfen mir, sagen mir, wo ich aussteigen muss. Der eine springt sogar auf, um an den Halteknopf an der Türe zu drücken, als ich im Begriff bin, den Ausstieg zu verpassen. Und dem kleinen Mädchen, das mit seiner Mutter vor mir sitzt, und das so tapfer gegen die Müdigkeit ankämpft, haben sie auch geholfen: Sie schenken der Mutter eine der Fantadosen, damit sie sie an die Kleine weitergibt. „Vois – l'homme vas te donner sa canette!“ Und weil das Trinken im Bus so schwierig ist, hilft sie der Kleinen. Macht ihr die Dose auf, hält ihr die Dose an die Lippen und wartet ab, bis der Bus hält, um sie einen kleinen Schluck machen zu lassen. „Sans verre, Maman?“ - „Sans verre, bichette, tu bois directement de la canette. Comme 'les Grandes' – wie „die Großen“ darf die Kleine direkt aus der Dose trinken...
Der Bus fährt also am Regierungspalast vorbei. Ein großräumiger, weit auslaufender nicht hoher Bau, der Würzburger Residenz, Sanssouci und Versailles von der Idee her nicht unähnlich: Symmetrisch aber durchaus mit Platz für Rundungen und Spielerei, teilweise geschwungen, geschmeidig und elegant. Irgendwie auch freundlich. Wenn der König anwesend ist, weht eine Fahne über dem Palast. Die Brüsseler mögen übrigens ihren König Albert II. Das mag vielleicht am Vorgänger, Baudoin I., liegen, weil er so liebevoll und nicht aristokratisch war, eine Krankenschwester und Kinderbuchautorin zu heiraten. Aber vielleicht liegt es auch daran, dass der König einfach ein verrückter Typ ist. Ein Freund, bei dem ich zu Gast war, berichtete mir davon, dass er es sich zum persönlichen Vergnügen gemacht hatte, seiner Palastwache auf dem Motorrad zu entwischen. 
Am Haupteingang steht ein rießengroßer, kerngesunder Weihnachtsbaum mit Lichtern geschmückt – für die Könige gilt es nach wie vor: immer das Beste vom Besten. Der Bus rauscht am Palast durch die Dunkelheit vorbei,  durch die ganze Länge, und spukt mich vor dem Museum aus (Haltestelle: Royal).
Seitenansicht des Museums-
gebäudes

Im Museum

Natürlich ist es zu spät für einen Besuch, aber ich nutze die Zeit, um mich auf die Außenfassade einzulassen. Zwei gigantische Engelsgestalten flankieren den Haupteingang. Eine von ihnen hat eine Feder in der Hand und ist im Begriff zu schreiben. Ansonsten vier Säulen, vier Statuen über dem Treppenaufgang. Auch sie bestimmt symbolisch, Allegorien der vier Künste? (Literatur, Skulptur, Dramatische Künste...) Ich frage per Email im Nachhinein nach.


"Hi there! I have one question with regard to the architecture of your museum-palace:
the four statues in front of it, those on the coloums, what do they represent? it would be very nice, if you could help me. Don't be shy to ask questions, or to contact me in any case.thankfully, martin" 

Vier Tage später erhalte ich die unerwartet eine Antwort:

"Dear Sir,
They represent
-          Painture,
-          Sculpture
-          Architecture
-          Music
They were made by MM. Egide Melot, Georges Geefs, Louis Samain and Guillaume de Groot.
Yours sincerely, Kartin Roedig (Persattaché / attachée de presse)" 
Also richtig gelegen. Am Mittwoch betrete ich also das Museum das erste Mal. Zufälligerweise ist der Eintritt in die Museen jeden ersten Mittwoch des Monats kostenlos und das Magritte-Museum ist außerdem länger geöffnet (bis 20h).

Die Eingangshalle


Man kann schon in der Eingangshalle sehr viel Zeit verbringen. Sei es das imposante Historiengemälde Episode des journées de septembre 1830 (Gustav Wappas), seien es die bunt und grell ineinander überfließenden Formen des modernen Gemäldes Dernier jour von Pierre Alechinsky, oder seien es die Zwillingsgemälde der Jugendstilikone Constant Montalds – jedes der Bilder ist perfekt dafür ausgewählt, einen neugierigen Besucher zu empfangen. Gerade Montals hat es mir angetan - mehr dazu später. Da es sich um einen sehr sehr großen, überdimensionierten Raum handelt, den die Eingangshalle darstellt (etwa 20x50x20m), hätten auch kaum andere Bilder an dessen Wänden aufgehängt werden dürfen. Kaum eines der Bilder ist kleiner als 14 .
die Eingangshalle
Dass es noch mehr in Brüssels Schatzkammer des Schönen zu entdecken geben wird als Historismus, Jugendstil und Moderne auf Leinwandform, daran erinnern die Plastiken, die auf dem Marmorboden verteilt sind. Auch diesen ist allen gemeinsam, dass sie imposant in der Größe sind. Die Mehrzahl ist aus Stein gehauen, aber auch drei Gussstatuen aus Bronze haben sich hereingeschlichen.
Zum Beispiel Joseph Lambeaux Werk Le Dernicheur d'Aigles (1890), das den Kampf eines in einen Adlerhorst eindringenden Jünglings, der vom sorgetragenden Wildvogel attackiert wird, darstellt. Der dunkle Guss beeindruckt in seiner Dynamik, in der Perfektion der Abbildung der absoluten Anspannung der Muskeln. Jede Sehne, jeder Muskel des Körpers ist angespannt. Beeindruckend tritt der Wadenmuskel heraus, und man ist überwältigt von der Vollkommenheit dieser Mensch-Maschine. 
Ein Stück weiter trifft man auf die sehr pathetische Darstellung einer dem Sohn vergebenden Mutter. Le Pardon, der lakonische Titel der Marmorplastik, die ein Vergebungssszenario zwischen Sohn und Mutter von Fallen-Lassen und Aufgefangen-Werden in die Ewigkeit geschlagen hat. Herausragend wirken die zusammengefalteten Hände von Pieter Braecke (1893-1895).

Rombaux_filles de Satan
Etwas weiter hinten in der Halle, nahe dem Eingang zur Sammlung der „Alten Künste“ (ancien art), haben die Museumsdirektoren schließlich Egide Rombaux' „Satansbräute“ aufgestellt: Drei Jahre brauchte der Meister, um seine filles de Satan zum Leben zu erwecken. Üppig, opulent und lüstern ziehen sie die Blick des Zuschauers an, der sich auch zu gerne darin fallen lässt, obwohl, oder weil es Sünde ist, ihnen bei ihren Sexspielchen zuzuschauen. Eine Voluptatis-Phantasie, die im Todesjahr Friedrich Nietzsches, begonnen wurde. Zwar hatte dieser Gott für tot erklärt, doch gerade damit erst setzte die Phantasie der Künstler zum Höhenflug an, und begann alles vorher dagewesene an Dreistheit, Formenreichtum Dekadenz und Romantik zu übersteigen. Gott ist tot doch seine verbotenen Phantasien leben weiter, wie man merkt, wenn man in die dämonischen Augen der Mittelfigur schaut. 
Vielleicht sollte man noch eine Figur erwähnen, bevor man sich wieder anderem widmet: Kaum einer interessiert sich hier für eine Statue, die den Besuchern eigentlich entgegenblickt, als würde sie sie empfangen wollen. Es handelt sich dabei um den König, der die Palastgärten nach der Napoleonischen Herrschaft mit seiner „Oranjerie“ bereicherte, bevor er wenige Jahre später, 1830, von den aufständischen belgischen Patrioten wieder aus der jungen Nation herausgeworfen wurde. Die Herrscherstatue von William von Oranien, dem ersten König der wiedererrichteten Vereinigten Niederlanden, wirkt hier wie ein stehen gelassener Empfangsdiener an dem der Strom der Zeit schon lange vorbeigegangen ist. Die Kunst allein ist eben doch für die Ewigkeit, Herrscher vergehen.


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