Montag, 22. Oktober 2012

Minnesang - Tagelied

Dietmar von Aist (um 1140-1171): "Slâfest du vriedel ziere"?

  • Gilt als das erste aufgezeichnete Tagelied im deutschen Sprachraum. 
  • Dietmar von Aist selbst gilt als Vertreter des donauländischen Minnesangs. 
  • Das Gedicht ist in drei gleichlange und gleichgereimte (Kreuzreim) Strophen unterteilt. 
    • In der ersten Strophe spricht die Geliebte den Geliebten an und fragt ihn, ob er noch schlafe? Die Vöglein würden schon auf den Zweigen zwitschern und damit das Heraufbrechen des Tages ankündigen. Ein Gefühl der Spannung liegt in der Luft, das mit der Gefahr, die innerhalb der Situation liegt, begründet werden kann. Was, wenn das heimliche Liebespaar erwischt wird? 
    • In der zweiten Strophe spricht der Liebhaber. Er beklagt die Situation: Liebe ohne Leid könne nicht sein, so lamentiert er, aber er würde den Anweisungen seiner Herzensdame bedingungslos folgen (Diese selbstaufgebende Form der Liebe gegenüber der Dame erinnert an das Konzept der "hohen Minne")
    • In der dritten Strophe ergreift der Erzähler kurz das Wort, um es abschließend an die Dame zu übergeben. Sie gibt dem Liebenden noch einmal ein Bündel Vorwürfe in der Form von Liebes- und Lebensklagen mit auf den Weg. 
Wolfram von Eschenbach (1160/80 - 1220) : "Von der zinne"

  • Innerhalb der Gattung Tagelied gibt es auch eine Unterkategorie: das Wächterlied, in dem vor allem der Wächter zu Wort kommt und seine Situation und Rolle kommentiert und reflektiert. 
  • Wolfram hat insgesamt neun Minnelieder geschrieben, davon fünf Tagelieder. Sie zeichnen sich besonders aus durch seine sprachliche Gewalt und die kunstvolle atmosphärische Verdichtung bei der Verknüpfung der bekannten Tageliedmotive. 
  • Die ersten beiden Strophen gehören zu 100% dem Wächter. Er reflektiert seine Lage und appelliert an die Frau, ihren Geliebten zu entlassen, indem er auch die Gefahr, die in der Situation liegt, subtil anspricht. 
  • In der dritten Strophe dagegen meldet sich der Liebende mit einem traurigen Appell zu Wort. Was im Anschluss daran in dem Text vollzogen wird, ist auszeichnend für Wolfram von Eschenbach. Er baut eine Dramatik auf, innerhalb derer der Liebesakt noch einmal vollzogen wird. Das Heranbrechen des Tages und die sich anbahnende Trennung führen noch einmal zur Steigerung des Verlanges und des Lustempfindens gleichermaßen, so daß im Moment der höchsten Gefahr und der knappesten Zeit noch einmal ein Liebesakt vollzogen wird. 
  • Innerhalb dieses Tagelieds gibt es einen variierenden Refrain: "hüete dîn, wache, süezer gast!"
  • Von Wolfram gibt es zum Beispiel ein Autorenbild im Codex Manesse. 

Wolfram von Eschenbach (1160(80 - 1220): "Ez is nu tac"

  • In diesem Lied spart sich Wolfram den Wächter aus und konzentriert sich auf das Liebesleid- und   Werbelied zwischen den beiden Figuren. Die Frau hat hier eindeutig emotionales Übergewicht. Innerhalb dieser Situation des kommenden Abschieds lässt Wolfram erneut ein Freudenfeuerwerk der nicht aufgesparten leidenschaftlichen, kompromisslosen Liebe explodieren: Wieder erfolgt ein Liebesakt das Wolfram den Erzähler in unvergleichbarer Weise schildern lässt. Das wolframtypische, pathetische Bild, das er dabei liefert, ist Folgendes:  
    • "Ob der sunnen drî mit blicken waeren, sine möhten zwischen sie geliuhten"
Wolfram von Eschenbach ( 1160/80 - 1220): "Sine klâwen durch die wolken sint geslagen"

  • Steitgespräch, Wächter und Frau wechseln sich in den ersten Strophen ab. Der Wächter ermahnt das Liebespaar, sich zu trennen, während die Frau versucht, den Liebenden auf alle erdenklichen Weisen zu halten. Schließlich erwacht der Liebende durch den Gesang des Wächters, das einfallende Tageslicht und natürlich auch den Lärm des Streitgesprächs. In der fünften Strophe schildert der Erzähler noch einmal den schnellen aber heftigen Liebeshöhepunkt des Paares. Der Liebeshöhepunkt und der Gedichthöhepunkt fallen somit ineinander. 
  • Wieder ein Bild, dass ich einprägt und beinahe schon expressionistische Züge trägt: Der Tag wird personalisiert, bzw. als klauenbewährtes Monster beschrieben, dessen Klauen durch die Wolken schlagen: 
    • sine klâven durch die wolken sint geslagen. er stîget ûf mit grôzer kraft"
Wolfram von Eschenbach: (1160/80 - 1220): "Der helden Minne"
  • Eine Art resümierendes Abschiedstagelied von der Gattung und der Thematik? Wolfram thematisiert dabei innerhalb von zwei konzentrierten Strophen. Er spricht in der ersten als Erzähler den Wächter an,  nicht mehr von diesen für ihn bestimmt auch traumatisierten Erfahrungen zu sprechen. In der zweiten Strophe zählt er die Nachteile der "helden Minne" auf: Angst des Entdecktwerdens, die Unruhe bei jedem Tagesanbruch. Beinahe erscheint es als Warnung für die männlichen Zuhörer: zufriedenstellende Liebe könne nur eine rechtmäßige, zärtliche Ehefrau geben. 

Reinmar der Alte: "So ez iener nâhet deme tâge" 
  • lamentierender Trauermonolog eines Liebhabers mit Minderwertigkeitskomplexen und ganz zuletzt, in der Schlussstrophe die Trauer der Frau über das Fernbleiben des Geliebten. Ganz unvermittelt lässt Reinmar hier die Verzweiflung und Liebessehnsucht, die in so einer Form der Liebesbeziehung vorliegen kann, an den Zuhörer herantreten. 

Otto von Botenlauben (1177 - 1245 bei Bad Kissingen. Deswegen steht dort am Marktplatz der Brunnen, den ich bei den Dreharbeiten während der Kissinger Zelttheatertage gesehen habe) : "Wie soll ich den ritter" 

  • Otto von Botenlauben ist ein interessanter Charakter aus der Geschichte des Mittelalters. Unter Heinrich IV zog er mit nach Italien, mit Heinrich VI nahm er an den Kreuzzügen teil. Er gewann im "heiligen Land" sogar Land, dass er um 1220 wieder an den Deutschen Orden verkaufte. Nach seiner Rückkehr stiftete er gemeinsam mit seiner Frau ein Frauenzisterzienserkloster ("Frauenlob"). Da seine Söhne in den geistlichen Stand eintraten, verstarb er ohne Erben. 
  • Ebenfalls ein Lied, das mit einer Wächterstrophe beginnt. Otto von Botenlauben schildert die Gedanken des Wächters im Vergleich zu Wolfram oder Reinmar sehr nüchtern und unverziert. Sentenzen vermitteln seinem Tagelied eine Dimension der Tiefe: "mâze ist zallen Dingen guot". Seinen Stil kennzeichnen auch die Gegenüberstellungen in komprimierter Form: "naht gît senfte, weh tuot tac"
  • In der zweiten Strophe lamentiert die Dame, in der dritten insbesondere der Herr. Hier wird ein forderndes Konzept der Liebe dargestellt, die Liebe, die bis zum Tod geht.

ALOIS WOLF über die literarische Tradition des Tagelieds in BACKES, Martina (Hg.): Tagelieder des deutschen Minnesangs. 

  • Zur ausschlaggebenden Literatur des christlichen Abendlandes gehören auch die Texte Homers, namentlich die Odyssee und die Illias (um 800 v. Chr. ) dazu. Schon in diesem wird an manchen Stellen ein zentrales Tageliedmotiv, nämlich das imposante und erhabene Einbrechen des Tages, beschrieben. Wolfs These ist, dass sich diese Schilderungen in der ein oder anderen Form, implizit gewusst oder explizit erahnt, auch in die mittelhochdeutschen Tagelieder hinübergerettet haben. Mit Sicherheit, eine plausible These, die solange Geltung hat, bis sie widerlegt werden kann. Wolf verschleiert aber, sofern ich mich erinnern kann, auch nicht den Gedanken, dass das Aufgehen der Sonne und die mit diesem Naturschauspiel verbundenen Vorgänge, ein universelles Faszinosum für die menschliche Natur ist und dass es somit nicht verwundert Literatur zu finden, die sich mit dem Tagwerden in welcher Form auch immer beschäftigt. 
  • Nachdem die "heidnische Kultur" der Griechen aus dem römisch-katholischen Abendland verbannt wurde ( erinnert sei hier an das Mailänder Toleranzedikt von 313 unter der Herrschaft Konstantin des Großen, einer der zentralen Punkte der abendländischen Geschichte), erlebte die christliche Kultur ihren Höhepunkt. Klöster wurden kulturelle Zentren, die Kirche der Hauptmäzene aller schaffenden Künste, "heidnische" Inhalte und Formen wurden verbannt. 
  • Zum Gesamtwerk der christlichen Literatur gehört auch das sogenannte "Hohelied". Es fällt aus dem Rahmen der kanonischen Texte, die man aus der Bibel kennt. Ist man es doch gewohnt in der Bibel alle fleischliche Liebe als Form der "voluptatis", der Wolllust, die unweigerlich mehr oder minder rasant in die Hölle führte, zu interpretieren Enstehungskontext, so ist das Hohelied selbst eine Form der Lobpreisungsliteratur der Liebe und des geliebten Körpers. Sowohl Spuren des Hohenlieds als auch Formen des christlichen Wecklieds können in den, mindestens aber in das geistige Entstehungsumfeld der Tagelieder, gestellt werden. Inhaltlich beinhaltet das Hohelied nämlich das Sehnen und Lobpreisen zweier sich gegenseitig Liebender und das Wecklied die direkte Anrede "Surgite! (Erwache!)", wie sie später in abgewandelter Form häufig im Tagelied zu finden sein wird. "stânt ûf, riter, ez izt zeit!"Auch die Wächterfigur ist hier bereits in unbestimmter Form präfiguriert (lat.: spiculator)
  •  Im Gegensatz zum Tagelied wird der Tag allerdings innerhalb des christlichen Metaphernraums als Weg aus der Dunkelheit hin zur Erlösung interpretiert, also als etwas Erwünschtes, wohingegen das Liebespaar im Normalfall den Tag "gevluochet" (gevluochet wart dem tage"(Wolfram: Ez ist nu tac)
  • Den nächsten Großen Schritt hin zur Entwicklung zum mittelhochdeutschen Tagelied in Volkssprache setzt WOLF anhand der "zweisprachigen Alba von Fleury". Hier ist explizit von einem Wächter die Rede, der appellierend an den Hörer herantritt. Den okzitanischen Kauderwelschrefrain deutet Wolf derart, dass es vielleicht schon eine volkssprachliche Weckliedtradition gab, die der Autor mittels dieses Refrains aufgegriffen hatte.
  • Den ersten eindeutigen "alba-ruf"ordnet WOLF Guiraud de Bonelh zu. Dieser vereint die Tradition des christlichen Wecklieds mit der doppelt besetzten Wächterfigur (Burgwächter und christlicher (Seelenheil)Wächter) und der Liebespaarthematik. Dann geht WOLF auf näher auf Kreuzlied ein um abschließend eine Alba von Raimbauts vorzustellen. Raimbauts lässt in dieser Alba alleine den Liebhaber sprechen, er führt also "die Sprecherperspektive der Minnekanzone" ein (BACKES, S. 57).
  • In einem Exkurs geht WOLF schließlich auf den Karrenritterroman von Chretiennes de Troyes ein. In Diesem Artusritterroman erobert Lanzelot die Gunst der Königin. WOLF betont, dass das Ende dieser stufenweisen Annäherung an die Königin in einem Tageliedgeschehen endet. Daraus schließt er zum einen, dass das Tagelied und dessen Thematik inzwischen ein begehrtes und sich etablierendes Material für die Dichter wurde, zum andern wird diese Thematik auch im mittelhochdeutschen auf fruchtbaren Boden fallen. 
  • Am Ende dieser langen Einführung geht WOLF noch auf Heinrich von Morungen und Wolfram von Eschenbach ein.

Fazit : WOLFs Einleitung ist ein sehr zäher Text. Man erkennt zwar, dass WOLF ein absoluter Fachmann, Kenner und Liebhaber der Materie ist. Aber wirklich leserfreundlich ist seine Einleitung nicht. Stillschweigend wird die Kenntnis des Provenzialischen oder des Altfranzösischen, ebenso wie des Lateinischen manchmal vorausgesetzt. Auch scheint er von Professorkollege zu Professorkollege zu sprechen, wenn er über die verhandelten Texte resümiert. Dass man als "normaler" Stundent nicht die Zeit hat, sich die Texte, über die er resümiert, anzueigenen, genausowenig wie die gegenläufigen Forschungen zu den Texten, die er in Seitenhieben anbringt, macht die Lektüre äußerst schwer. Ein paar Definitionen in Fußnoten hätten da vielleicht schon ein wenig Abhilfe gebracht, denn was der Unterschied von Alba-Lied, Alba-Kanzone und Aube ist, habe ich trotz bemühtem Lesen immernoch nicht herausgefunden. 


BEHR, Hans Joachim in: "Die Inflation einer Gattung: Das Tagelied nach Wolfram." In: CYRIL, Edward: Lied im deutschen Mittelalter. S. 195-202.


BEHR geht auf die Entwicklung des deutschen Tagelieds nach Wolfram von Eschenbach und Otto von Botenlauben ein. Er hinterfragt die These, dass Wolfram und Otto "als normsetzend für die weitere Entwicklung der Gattung angesehen werden"(196). Anfangs geht er kurz auf die Forschungsgeschichte im Bereich "Tagelied" ein und hält fest, dass bei aller Unsicherheit, die bezüglich des Ursprungs des mittelhochdeutschen Tagelieds ("der Protos Heuretes der Gattung", S. 195) festgehalten werden kann, dass der Ursprung dieser Gattung in den Amores von Ovid und den provençalischen Albadichtungen gefunden werden kann.
Eine Stärke des Textes ist es, dass er sich um einen "sauberen Gattungsbegriff" bemüht und dafür einen Kritierienkatalog liefert. Tagelieder erkennt man nach Behr anhand von drei Charakteristika, die mittels der Fragen WAS? WANN? und WO? beantwortet werden können.

Zuerst zum WAS? des Tagelieds: Welche Situation wird beschrieben? Nach BEHR muss ein Text, damit er Tagelied genannt werden kann, als Situation die bevorstehende Trennung eines Liebenden und einer Geliebten  nach einer heimlichen Liebesnacht und deren Verhalten beschreiben.

WANN? Die Situation muss sich zur Zeit des Tagesanbruchs abspielen.

WO? Die Situation muss sich in den Gemächern der Dame abspielen. Meistens handelt es sich dabei um eine Kemenate ( Kaminzimmer).

BEHR konstatiert im Verlauf seiner Untersuchung, dass diese Motive in ihrer Ausprägung gemeinhin wechselhaft sind. Für ihn ausschlaggebend wird vor allem das "kommunikative Muster", das den Tageliedern zugrunde liegt, die  prinzipielle Gesprächskonstellation.
Ausgehend von diesen Charakteristika skizziert BEHR dann die Variationen der Prototypenkonstellation. Er arbeitet heraus, wie Wolfram diesbezüglich prägend für einige Nachfolger war, dass er die Verbindung von Abschiedssituation und Liebesvereinigung im Thema etablierte. Schließlich geht er noch genauer auf die Modifikationen des Tagelieds nach Wolfram ein. Diese können in der Aufstockung der Figuren (Magd), in die Verlegung ins bäuerliche Milieu, in die Ergänzung durch eine räsonierende Erzählerfigur und die Verschmelzung mehrerer Gattungstypen liegen (Serena = Abendlied, Tagelied, Kreuzlied : Burggraf von Lienz).

Fazit: BEHR liefert einen gut verständlichen Text, der einen in den Kosmos der Tageliedforschung eindringen lässt, ohne gleich darin zu ertrinken ( so wie es bei WOLF erschien). Der Gegenstand seiner Forschung, also die Frage, ob und wie Wolfram von Eschenbach gattungsprägend war oder nicht erscheint mir zwar nicht ganz klar beantwortet zu sein oder im Fokus des Autors zu stehen, aber hilfreich und lehrreich ist der Essay allemal.

HIRSCHBERG, Dagmar: Ein Tagelied-Experiment des Mönchs von Salzburg; In: CYRIL, Edward: Lied im deutschen Mittelalter; S. 203- 216)

Zuerst schreibt Hirschberg noch einmal ausdrücklich, dass die Lieder "als erste Verschriftlichung von Mehrstimmigkeit im deutschen Lied"(203) gelten. Sie geht dann insbesondere auf die "Klaffer" ein, teufelsähnliche Kobolde oder Lästermäuler, die der Liebe böses wollen. Wie man sich gegen sie verteidigen kann, "zu warnen, zu raten und zu lehren" sind Aufgaben des Wächters und Anliegen dieses Tagelieds.


ROHRBACH, Gerd: Studien zur Erforschung des mittelhochdeutschen Tagelieds. (1979)

In seinem "Vorspiel" widmet er sich Dietmar von Aists "slâfest du vriedel ziere". Er interpretiert es derart, dass das wollen des Mannes und nicht der eintretende Tagesanbruch mit seinen gesellschaftlichen Leitvorstellungen zur Klage der "vrouwe" führt. Er muss nicht fort, er will fort.
In Stichpunkten:
Rohrbach plädiert für eine sozialhistorische Analyse der Tagelieder: Radikal ausgedrückt: Gesellschaft schafft Tagelieder. Norbert Elias habe das System des Hoflebens bereits untersucht, da dort ... oder zumindest für dort die Tagelieder geschrieben wurden. Sie suchen Heil an diesem Ort, der von herrschaftlichen Interessen gestaltet ist (vgl. S. 16) "Um Erfolg zu haben, müssen sie stets die Interessen der Herrschenden mitreflektieren." (ebd.). Das führt zu zwei Haltungen: bedingungslose Anpassung an den Geschmack der Herrscher oder die Gradwanderung der leichten Kritik ohne die Messer zu scharf zu wetzen. Der Dichter im System "Land" hingegen kann sehr viel kritischere Töne anschlagen.
Wie auch immer, wichtig ist es für Rohrbach die Texte in ihrem Entstehungskontext zu lesen. Sein Text stammt aus den 70gern, damit versteht man, dass dies damals "en vogue" war.


KNOOP, Ulrich: Das mittelhochdeutsche Tagelied (1976)

Man sollte in der Forschungsliteratur chronologisch vorgehen. So lese ich durch die Brille Knoops über längst gelöste Forschungsprobleme bezüglich des "protos heuretes" der mittelhochdeutschen Tageliedliteratur und deren Ursprüngen. Ob nun Dietmar von Aist oder Wolfram von Eschenbach die Erfinder der mittelhochdeutschen Tageliedliteratur waren, und ob es einen volkstümlichen Tageliedtypus gab, der ebenfalls seine Spuren im höfischen Tagelied hinterlassen haben könnte, das sind Forschungsdebatten, die im Einleitungskapitel von Knoop verhandelt werden. Ein alter Hut aus der Sicht von 2012, wo wir Wörter wie "Polygenese" verwenden, um diesen antiquierten Ursprungsforschungen zu entgegnen. Hat nun Wolfram den Wächter erfunden oder übernommen? Nach der Lektüre von WOLF kann ich hier guten Gewissens sagen: Es gab ihn schon vorher in der Tradition des christlichen Wecklieds und der provençalischen Alba Guiraud de Bonelhs. Ob ihn Wolfram nun übernommen oder erfunden hat, ist damit nicht beantwortet. Kreatives Schaffen ist rätselhaftes und oftmals verborgenes Schaffen. Selbst wenn Wolfram wie Brecht ein Arbeitsbuch geführt hätte, in dem Gespräche, Beobachtungen, Begegnungen und Reflexionen eingetragen worden wären, gibt es noch soviel unbewusstes oder verschwiegenes, was in den kreativen Schaffensprozess miteinfließen kann, dass es einfach keinen Sinn macht hier weitere Tinte zu verschreiben. Der Nummer Eins Hit der Rolling Stones "Has anybody seen my baby" ist der letzte mir bekannte und eindeutigste Beweis dafür, dass Melodien, Texte, Fragmente und Motive auch unbewusst übernommen werden können, also ohne ein bewusstes Wissen des Künstlers darüber, dass er gar nicht der Urheber dieses Kunstwerks ist.
"Jagger and Richards claimed to have never heard the song [constant craving] before, only having discovered the similarity prior to the song's release. As Richards writes in his autobiography Life, "My daughter Angela and her friend were at Redlands and I was playing the record and they start singing this totally different song over it." (wikipedia)
Wo waren wir nun also stehengeblieben? Polygenese, provençialische Vorbilder (Guiraud de Bonelh). Okay.
Im weiteren Verlauf der Einleitung kritisiert Knoop schließlich noch die Tageliedveröffentlichungen, die weder chronologisch noch inhaltlich sinnvoll oder richtig zusammengetragen und angeordnet worden seien. Die Sammlung von Martina Backes dagegen beruht auf einer chronologischen Ordnung, die darin vorkommenden Tagelieder sind exemplarisch.
Lobenswert ist die Systematik der Untersuchung Knoops: Zuerst listet er die Tagelieder auf. Dann unterscheidet er sie zwischen "Volltageliedern" und solchen, die von der vorläufigen Definition abweichen. Im Anschluss daran geht er auf jedes abweichende Tagelied ein und erklärt, warum es von der vorläufigen Definition abweicht. Z.B. Günter von dem Vorste: er liefert zwar die Motive, aber sein Lied besteht aus 23 Strophen, wohingegen "ein Großteil der Tagelieder drei, höchstens aber sieben Strophen aufweist. Inhaltlich weicht dieses Lied durch den ausgeweiteten Liebesdialog ab, durch Anreden eines Publikums, durch Einbezug der Vorgeschichte etc., so dass dieses Lied für den Corpus nicht in Frage kommt" (S. 51).
Außerdem liefert Knoop Motivlisten und Auswertungen dieser Listen. So bekommt man schnell einen Überblick über die möglichen Tageliedmotive. "scheiden, morgenstern, gefahr, anbefehlen, etc.)



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