Sonntag, 10. Februar 2013

Goethe Iphigenie auf Tauris (1779 / 86)

Feuerbach - Iphigenie
Inhalt: 
Iphigenie ist seit 10 Jahren bei den Taurern, einem Volk, das aus Sicht der Griechen, barbarisch ist, als Tempelpriesterin der Diana beschäftigt. Der König der Tauren, Thoas, wünscht sie sich zur Frau. Ihr Bruder Orest und dessen Freund und Cousin Pylades treffen auf Tauris ein, und wollen dort die Statue der Diana aus dem Tempel entwenden.  Sie werden gefangengenommen, Iphigenie hätte die Aufgabe, sie zu opfern - was der König auch als eine Art Druckmittel gegen ihre Unerreichbarkeit benutzt. Für Orest, Pylades und Iphigenie bietet sich die Gelegenheit zur gemeinsamen Flucht von der Insel. Doch Iphigenie ergreift die Gelegenheit nicht sofort. Ihr Gewissen gebietet ihr anderes zu tun, denn sie fühlt sich Diana als Priesterin und Thoas wegen seiner Gastfreundschaft verpflichtet. Im fünften Akt kommt es schließlich zur Aussprache zwischen den Charakteren und die Geschichte findet einen guten Ausgang: Thoas lässt die Griechen, nach einer Unterredung mit ihnen, in die Heimat segeln. 


Form:
Genus grande, viele Euphemismen und Direktübersetzungen aus dem Griechischen, "übernatürliche" Sprache "aber nicht außernatürliche". Gefasster, als in der Realität, eloquenter als in der Realität und würdevoller als in der Realität treten insbesondere Iphigenie und Thoas auf. Goethe benutzt den Blankvers. Da bereits 1779 eine sogenannte Prosa-Fassung von der Iphigenie existierte, liegt mit der Ausgabe, über die ich rede, "nur" eine Überarbeitete Fassung vor. Die Verse wurden unter mithilfe von Herder und unter der Schwierigkeit ihnen "unter dem Joch des Verses nicht das Gnick zu brechen" (Goethe in einen Brief an Herder) also umgeformt, reogarnisiert und klassizistischer Verpflichtung gemäß aufgewertet. Auffällig ist auch, dass die Figuren angepasst an ihre aktuelle Situation sprechen. Zwar ist der Blankvers definitiv dominierendes Versmaß in dem Stück, doch in Erregungszuständen der Figuren wird dieses Versmaß auch verlassen. (z.B. Iphigenie: "Es fürchte die Götter / das Menschengeschlecht" -> xúu xúu / xúu xx , oder der "Wahnsinnsmonolog" Orests)
Es handelt sich um einen klassischen Fünfakter mit Exposition, erregendem Moment, Höhepunkt, retardierendem Moment und Lösung. Wobei hier problematisierend angegeben werden kann, dass das Stück durchaus mehrere Höhepunkte aufweist. Diese sind zum einen das Wiedererkennen Orests und Iphigenies, zum andern aber auch das Eindringen Orests, mit gezogenem Schwert, in das Gespräch zwischen Thoas und Iphigenie im 4. Akt. 
Die Form folgt den Gestaltungsprinzipien der Klassik, die die griechischen Formvorgaben Horaz neu entdeckt und auf den zur damaligen Zeit beliebten Iphigeniestoff angewendet werden: Das Stück ist ganzheitlich. Es hat einen klaren Anfang und ein klares Ende. Es ist Schlicht und Überschaubar: nur fünf Personen handeln, die Handlung folgt einer stringenten Ausgangssituation und läuft klar auf eine Zielsituation hin. Das Drama gehorcht dem Prinzip der klassizistischen Dämpfung hoher Affekte und Emotionen und schließlich kann es als musterhaft gelten. 

Interpretation:
Die wissenschaftliche Interpretation ist diejenige, die Konflikte aufgezeigt, die Figuren beschreibt und charakterisiert, ihr Verhalten und ihre Charakterdisposition durchleuchtet, die den Aufbau hinterfragt und in der Regel am Ende die Mehrdeutigkeit des Textes hervorhebt.
Darum geht es mir gerade aber nicht. Vielmehr frage ich mich, inwieweit der Text tatsächlich musterhaft ist, inwieweit er sich auf die reale Lebenswirklichkeit bezieht, oder bezogen werden kann. Der Text geht tief und er berührt mich auf eine ganz sonderbare Art und Weise. Ich bin weder gerührt von ihm noch schockiert oder zitternd. Mag sein, dass ein Grund dafür ist, dass ich nicht mehr der naive Leser bin, der nur textimmanent auf die doktirnengleichen Verse blickt und der Meinung ist, dass jede Zeile vor dem Aufeinandertreffen des Lesers mit der Realität zu ihrer Wirkung gebracht werden muss.  Denn die Realität ist anders und sie war auch damals anders. Mit andern Worten: Goethe hat einen Text geschrieben, der weitaus humanistischer ist, als er selbst es jemals war. Denn mitnichten: ich kann die sozialhistorische Perspektive nicht mehr ausblenden: dass da ein paar Privilegierte 1786 abgeschottet von der sozialen Wirklichkeit, bzw. genauso von Frondiensten, Steuerfreiheit, absoluter Gerichtsbarkeit und ähnlichen Herrschaftsrechten des ancien regimes finanziert ihre selbstschmeichlerischen Sozialphantasmen auslebten (Carl August hat ja selbst in der Uraufführung den Thaos gespielt), Todesurteile unterzeichneten und Kaffee schlurften, anstatt konkret den ganzen Staat zu veredeln und nicht nur die höfische Repräsentationskultur. Eben das würde mich interessieren: welche Reformimpulse gab  Goethe an welche Zielgruppe hinaus? War er ein Volksheld? Als Sturm- und Dränger ja, aber war er es auch noch als Minister und Beamter?
Und ganz pragmatisch gesehen: König Thoas handelt aus seiner Wortverpflichtung heraus, als er Iphigenie und die Griechen ziehen lässt. In der Exposition gab er ihr das Versprechen sie gehen zu lassen, wenn sich die Gelegenheit ergeben würde. Iphigenie nagelt ihn an seinem Wort fest. Albrecht Mayer findet das, so scheint es, garstig und zuviel verlangt. Eben das mache die Iphigenie so verteufelt humanistisch. Ich dagegen frage mich, inwieweit ihre Verbindlichkeitsforderung, also ihr Beharren....ihr in ihren Charakter versenktes Verlangen nach Worttreue nicht tatsächlich der Ausgangspunkt allen zwischenmenschlichen Handelns sein muss? Nicht umsonst lernt man immer wieder, dass Kommunizieren und "richtiges" Kommunizieren (nach Grices Gesprächsmaximenmodell) das A und O aller zwischenmenschlichen Beziehungen sein muss. Also deswegen kann ich hier nur ganz persönlich empfindend sagen: Bitte . haltet. euer . Wort.

Intertextuell:
(Und wo wir gerade bei Klassik sind: die Gesprächsszene aus Schillers Maria Stuart (1800) zwischen Maria und Elisabeth kann geradezu als Gegenbeispiel zur gelungenen, humanistischen Kommunikation Iphigenies mit Thoas herangezogen werden.)


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen