Samstag, 27. April 2013

Empfängnisverhütung

Ich weiß nicht, wie ich darauf komme...La recherche...l'exploration...Seit drei Monaten oder länger lese ich nun ausschließlich, so kommt es mir vor, historische Texte und historische Interpretationen und Metareflexionen über Geschichte und Geschichtsbewusstseinsbildung und überhaupt. "Harte Fakten".
Und gestern las ich dann wieder zufällig irgendwo dieses Wort (Exploration), um das sich so vieles in der Welt des Theaters und ihrer Herangegensweise an die Welt widerspiegelt....


Gestern war ich in der Würzburger Kellerperle und habe mir ein Stück von drei jungen Tänzerinnen angeschaut. Es hatte den Namen...


Der Inhalt

Grob vereinfacht war der Inhalt des Stücks etwa folgender: 
Drei Frauen in Abendgardarobe (also Ballkleid und Hochschuhen) betreten die "Bühne des Galadinners" oder Sektempfangs und spielen ein wenig die Mikrosituationen durch, die so ein gehobner Anlass mit sich bringen kann. Erster Auftritt, das Aufeinandertreffen mit andern Frauen, Anstoßen hier und da, etc. 
Eines ist dabei den meisten Plots gemein: Den Figuren fehlt die Lust und die Freude sich wirklich mit den andern Figuren auseinanderzusetzen. Schon gar nicht humanistisch. Stattdessen steht animalischer, mal kaschierter, mal offener, triebgesteuerter Habenwollen-Egoismus (symbolisch- verdichtet dargestellt im Lechzen nach Champagner und dem Spiel mit dem Champagnerglas) im Zentrum des (weiblichen) Interesses. Ein Kellner ist der Zuschauer dieses komisch-tragischen Trauerspiels und bedient die Frauen mit Gläsern und Champagner. 
Am Ende des Stücks erhalten die Damen endlich ihren ersehnten Champagner und anstatt ihn zu trinken, genehmigen sie sich und dem Publikum den Reiz einer Champagner-Dusche beizuwohnen, bevor sie die nun leeren Gläser gleichzeitig fallen lassen und das Stück damit beenden.


Die Interpretation

Es ist mir nicht möglich über alle Szenen zu schreiben. Ich habe sie auch nicht alle memoriert. Klar ist, dass hier aufgezeigt und persifliert werden soll. Die Gangart am Beginn des Stücks, als Tänzerin 1 die Bühne betritt, macht das bereits offensichtlich. Ebenso die Wahl der übertriebenen Absatzschuhe. Eine Satire also, eine Persiflage, eine Form des kritischen Erzählens.
Stark war die "Exploration d'une matière".

Gerade wie Tänzerin 2 (nach Reihenfolge des Auftritts) auf einem Champagnerglas herumbeißt, nachdem sie es abgeleckt hatte, der Wunsch es zu inkorporieren, war zusammen mit der Reduzierung der Musik ein starker aufklärerischer Moment des Stücks: Man ist beängstigt. "Knirscht - kracht das Glas? Es ist zum Trinken da, nicht zum Essen. Gelänge es, weißt du nicht, dass es gefährlich ist, Glas zu essen?" Ob beabsichtigt oder nicht, die verfremdete Illustration, also das Aufzeigen eines gesellschaftlichen Vorgangs in der Art und Weise, dass er Verwunderung und Erstaunen hervorruft, wie Brecht gesagt hätte, und eben die Illustration des selbstzerstörerischen Potentials, das in diesem symbolischen Durst nach Anerkennung, Sex, Geld, unbedingter und absolut herrschender Medea-Weiblichkeit liegt (all das komprimiert im Bühnensymbol des Champagner-Glases), wurde krachend und knirschend von der einen Tänzerin auf den Punkt gebracht. 

Auch eine gefundene symbolische Geste ist im Gedächtnis geblieben. Die Tänzerinnen stehen dabei in einer Figur, die man vielleicht als "Geburtenhocke" bezeichnen könnt, nebeneinander auf der Bühne und streichen sich dreiecksförmig auf ihr weibliches Zentrum hin mit den Händen am Körper entlang. Dieses Symbol lässt sich mehrfach interpretieren. Aber verstanden habe ich es nicht - soll es anziehen? Weiblichkeit ausdrücken? Eine Art der Selbstabtreibung und Ausschabung, wenn man die Doppelbödigkeit des Titels mit seiner Nähe zur Empfängnisverhütung in Betracht zieht? Ein Symbol für die Periode? 

Orest und die Erynnen
Und schließlich als ein drittes Element des Stücks kann man sich folgendes Merken: Die drei Tänzerinnen formten sich zu einer Gruppe zusammen und tanzten ein wenig klassisches Formentheater. Plötzlich bricht die Gruppe auseinander, alle Formen der Schönheit, Anmut, Würde und Klassik zerbersten und erynnengleich, voller Gehässigkeit und Zischen stoben die Figuren auseinander und wirbelten wie vom Teufel besessen auf der gesamten Bühne herum. Ein Moment, der mir den Atem stocken ließ und mich sogleich an Iphigenies Bruder Orest denken ließen, den die Erynnen jagen. Auch das kam stark und furchterregend rüber.



Das Gefühl

Hmm. Anfangs war mir etwas mulmig in Anbetracht soviel geballter Weiblichkeit. Auch eine private Angelegenheit hat meine Sicht auf das Stück vielleicht etwas betrübt und voll konzentriert war ich lernbedingt auch nicht. Ich nahm die Aggression war, die in dem Stück liegt und anfangs meinte ich eine Art Männerfeindlichkeit, also eine Art verkehrter Misogynie zu spüren. Dann machte ich mir oft Sorgen, weil zweimal zu viel Glas kaputtging und die Tänzerinnen trotzdem barfuß waren. Ein dritter Kritikpunkt, der mir seit längerer Zeit aufgällt und immer wieder hineinspielt, wenn ich Damen beim Tanzen zusehe, ist der Hang zur Selbstdarstellung auf der Bühne. Das Problem, das das, was gezeigt wird, zwar unter dem Deckmantel der Satire getarnt und geschmückt ist, dabei aber selbst das Verhalten zeigt, dass auf oberster Ebene angeprangert wird.
In meinem persönlichen Geschmack war mir die Aggressivität ein wenig zu heftig. 


Zieht man diese Gefühle und deren Anmaßungen ab, bleibt ein Stück, das sich in postmoderner (Fragmente, Mikroszenen, die in ihrer Reihenfolge ausgetauscht hätten werden können), verfremdender (Champagnerglas und "Auftakelgebärden"), postdramatischer Weise (- Der Schauspieler als Performer: Champagner-Dusche) auf pfiffige, originelle und vielseitiger Art mit dem Thema "weibliches Verhalten beim Sektempfang" auseinandergesetzt hat. Sehr gut hat mir die Musikauswahl gefallen. Anschauen, wenn man kann, keep art alive!

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