Freitag, 11. Oktober 2019

Kein Schiff wird kommen - Mainfrankentheater

Schmunzette entwickelt sich zum Psychothriller
Applaus, Applaus, ein geniales Ensemble, ein gewagtes Stück mit einer Prise Psychothriller!

Inhalt (ohne Spoiler)

Der junge Wahlberliner Dramatiker Thomas ist im Begriff ein Stück zum Mauerfall in Deutschland zu verfassen und besucht im Rahmen dessen seinen Vater auf der Insel Föhr, um ihn nach seinen Erlebnissen zu befragen und an Material für seine Arbeit zu kommen.
Vater und Sohn in der Inszenierung des Mainfrankentheaters 2019
Schnell und unverhohlen wird klar, dass die Beziehung der beiden auf Eis liegt. Unerträglich ist die schweigsam-freundlich, eigenbrötlerische Art des Vaters dem Berliner Nachtschwärmer und der Protagonist lässt kaum eine Gelegenheit aus, dem Vater mit aller Wucht seine Unzufriedenheit mit dessen Verhalten und Person entgegenzuschleudern.
Umgekehrt wehrt sich der Vater auf seine Art und Weise gegenüber den Vorwürfen des Sohnes. Im Fazit ergibt das eine spannungsgeladene tragikomische Konfliktatmosphäre und man fragt sich, wie man die Beziehung der beiden entspannen könnte und ob etwas Milde auf Seiten des Sohnes nicht angebracht wäre.

Doch das Stück entwickelt sich von der Vater-Sohn-Studie weiter. Im zweiten Teil des Stücks geht es um die Ereignisse, die für den Vater mit dem Mauerfall verbunden sind. Und hinter ein paar belanglosen Geschichten, so merkt man bald, lauert irgendein Tabu. Irgendetwas schlummert da -irgendein Schatten der Vergangenheit. Der Weg zur Enthüllung dieser Episode aus dem Leben des Vaters, das ist quasi der nächste Handlungsschritt im Drama. Die Vergegenwärtigung der Geschehnisse ist schließlich der Höhepunkt.

Interessant ist dann der Umgang der Figuren mit der Enthüllung der Wahrheit.
Für Thomas ist es, das Leben, Theater. Als postmoderner Mensch kennt der die Gnade und das Credo des "Wer bin ich? Und wenn ja, wie viele?" und ist in der Lage auszudifferenzieren. Der Vater dagegen hat diese Möglichkeiten nicht. Er verweilt und wird selbst zum Geist.

Aufbau und Inszenierung

Viele Monologe Thomas, die seine Gedanken offenbaren. Sehr schildernde Sprache.
Geisterhafter Schatten der Vergangenheit von Anfang an auf der Bühne durch Riesenbilderrahmen und Welt dahinter ("Geisterwelt") mit Bank und Frau darauf. Unheimlich-mystische Atmosphäre.
Pendeluhr-Mechanik-Geräusche zur Untermalung der drückenden Atmosphäre im Elternhaus.
traurige Gitarrentöne zur Untermalung der Traurigkeit und des Dramatischen, vor allem gegen Ende des Stücks.
Interessant: Wie Vater "gebrochen" die Bühne und den Zuschauerraum verlässt (Gegenpol zu Thomas, der sie energiebeladen betritt und das Stück so eröffnet)
Interessant: Wie der Vater gebrochen den Platz der "Geisterfrau" einnimmt.
Interessant: Überblendung, als Erinnerung und Vergegenwärtigung ineinander greifen, und die Ebenen mittels Projektion (Erinnerung) und Schauspiel miteinander verwoben werden.
Die Selbstthematisierung des Theaters. Was darf es? Was kann es? Welchen Zwängen ist es unterworfen? Wie bändigt man Komplexität?

Schauspiel: 

Brilliant! Die Menge an Text, die Flüssigkeit und Lebendigkeit im Vortrag (Martin Liema) , die Klarheit der Sprache des Vaters und sein Timing, die stakkato-"Thomas"-Salve der Geistermutter. Wirklich genial!


Kleine Sprachuntersuchung (evtl. Spoiler)

Einmal im Stück fällt ein markanter Kraftausdruck. Als die Mutter Thomas als „Fotze“ beschimpft, kann man das so interpretieren, dass diese verbale Entgleisung ihrer Krankheit und dem damit einhergehenden Verlust der Selbstkontrolle verschuldet ist: Keine normale Mutter würde ihr eigenes Kind derart beschimpfen, geschweige denn im Feminin. Insofern manifestiert sich in der Sprache die geistige Krankheit der Mutter.

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