Samstag, 15. September 2012

Brecht: "Die Dreigroschenoper"; Inszenierung von Bob Wilson

15. September 2012: Berliner Ensemble. Brecht: "Die Dreigroschenoper"; Inszenierung von Bob Wilson und Festvorstellung zu Ehren von Jürgen Holtz (Mr. Peachun)
Jürgen Holtz beim Abschminken


Vor etwa einem Jahr bereiste ich Berlin, um mir Bob Wilsons neueste Inszenierung, Lulu, am BE anzusehen. Aufmerksam wurde ich auf ihn, wegen meiner Studien in Caen 2008, wo wir ein Video aus den späten Neunzigern präsentiert bekamen, in dem er seine Theorie der "indefinite line" vorstellte und man einen Einblick in seinen akkribischen Probenalltag bekommen konnte. Er forderte und verlangte viel von seinen Schauspielern. Und er verfolgte selbst eine eindeutige Linie, er wußte, was er wollte.
Damals war sein Stil noch nicht so ausgeprägt, wie er heute ist. Die weiße Überschminkung der Gesichter der Figuren, die klare Lichtkonstellation in jeder Szene, die Einfachheit der Bühnendeko im Gegensatz zur Größe ihrer Bedeutung und Wirkung, die Bewegungsmuster und Gesten der einzelnen Figuren, ihr Grimassieren, Verharren, Aus-Der-Handlung-Fallen, das Moment der Albernheit, dass sich aus dem Brechtschen Verfremdungseffekt entwickelt hat, und überzeichnend, skurril und humoristisch zugleich Eigenarten der Figuren oder bestimmter zwischenmenschlicher Handlungen und Gewohnheiten überdeutlich kenntlich macht, usw.
Jedenfalls bereue ich keine Minute der Anstehzeit, den die regulären Karten waren alle schon weg, und zwei Stunden vor der Vorstellung konnte man sich in eine Warteschlange einreihen, die wiederrum zu einer Warteliste für die Restkarten führte. Ein festes Restkartenkontingent gab es nämlich keines. So kauften wir zuerst zwei Stehplatzkarten für 5 Euro und pokerten darauf, dass es später zum einen noch Sitzplätze geben würde, zum Andern die Stehplätze weiterverkauft werden könnten. Im Nachhinein wäre der Stehplatz wohl auch in Ordnung gewesen. So darf ich mich aber getrost wieder einmal Glücksritter nennen, denn obwohl meine Begleitung und ich getrennt waren, bekam ich immerhin und wahrscheinlich das letzte Mal im Leben einen Logenplatz. "Normalerweise werden die nur intern vergeben", sagte die Mitarbeiterin, die mir extra eine Tür dafür aufschloss. In der Pause schaute ich mir auch ein wenig den Bau an, der nicht nur zum "Zeitvertreib" dienen sollte, sondern ein festes "Wir" schweißen sollte, wie Brecht selbst es wünschte. Sehr oppulent und barock ist der Bau, dessen Innenbau auch sehr rot gehalten ist und  so gar nicht zu den brechtschen Ansichten passend.  Stuck schlängelt sich durch den gesamten Innenraum, der zwei Stockwerke und ein paar Logen umfasst. Bestimmte Stützsäulen - und es sind nicht wenige - sind mit Engelstatuen verziert, die aus der Wand herauszukommen scheinen und Rosen in den Händen tragen, die sie dem Zuschauer wiederum anzubieten scheinen, wenn er sie betrachtet. Von der Loge aus konnte ich auch gut in den Orchestergraben schauen und den amüsierten Musikern zuschauen. Sie schienen ein paar der Songs wirklich zu mögen, denn sie grinsten und schnippsten mit und sahen sich gegenseitig aufmunternd und scherzend an, anstatt nur stur ihr Programm runterzuspielen. 


Auf dem Weg ins Verhängnis? 
Soviel zum Drumherum. Wie war die Inszenierung? Von der Wirkung her amüsant, erstaunend, immer wieder verblüffend, bourgeois und sehr nahe an der Showrevue. Besonders gut gefielen mir die Gangster um Mackie Messer herum, insbesondere bei der Hochzeitsszene: Sie bauen Bänke auf, die sie überall aus London zusammengeklaut haben und reissen ihre dreckigen Zoten gegenüber der Braut, was Mackie natürlich bekämpfen muss. Und diese Figuren agieren alle als eine organische Masse. Typisch Wilson: Jede der Figuren ist einzigartig. Das heißt, sie hat eine eigene Redeweise, eine eigene Bewegungsweise, ein eigenes markant-auffälliges Aussehensmerkmal und eine eigene Shilouette. Phantastisch war es, wenn die Figuren miteinander interagieren. Dann finden und lösen sie sich von einer Konstellation und lebendigen Bildgruppe in die nächste. Immer perfekt proportioniert, immer in Bewegung, mindestens mit leichten Gesten, manchmal mit dem ganzen Körper und durch den ganzen Raum schwebend, geladen voll amüsanter Energie...Das Ganze war meistens in eisblaue Beleuchtung getaucht mit einzelnen Hervorhebungen. Allein der Puff sticht raus - in ihm wird klar und ganz bewusst rot gezeigt.

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